Verhandeln Sie noch oder widersprechen Sie schon?
Der Supreme Court des US-Bundesstaates Michigan hat im Juli ein bahnbrechendes Urteil für die Zuliefererbranche gefällt. Diesem lag ein Streit zwischen zwei Automobilzulieferern zugrunde: MSSC, Inc. (Tier‑1) und AirBoss Flexible Products Co. (Tier‑2) waren darüber uneinig, inwiefern AirBoss vertraglich dazu verpflichtet war, MSSC dauerhaft zu vorab bestimmten Preiskonditionen zu beliefern, oder ob Airboss in der Lage war, Lieferabrufen zu widersprechen.
Worum ging es?
AirBoss belieferte MSSC über einen langen Zeitraum mit Bauteilen, aus denen MSSC Produkte für ihre Kunden herstellte. Dieser Geschäftsbeziehung lag ein Vertragsverhältnis zugrunde, das die Bedingungen für das Projekt im Allgemeinen regelte:
Die Belieferung durch AirBoss erfolgte gemäß regelmäßigen Bestellungen von MSSC. Diese wurden jeweils als „Rahmenbestellung“ (engl.: „blanket order“ oder „purchase order“) bezeichnet. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von MSSC bestimmten hierzu, dass eine einmal erteilte Rahmenbestellung für die gesamte Laufzeit des Projekts als „gültig“ anzusehen sei. Damit sollte – so MSSC – unter anderem die Bindung an die darin festgesetzten Preise gemeint sein.
Den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von MSSC ließ sich entnehmen, dass MSSC zwar grundsätzlich verpflichtet war, mittels Lieferabrufen von AirBoss Bauteile abzurufen. Aus diesen Regelungen ergab sich allerdings keine explizite Pflicht, eine bestimmte Gesamtmenge an Waren über die Vertragslaufzeit abzunehmen. Vielmehr gab MSSC diesen Regeln folgend stets nur Schätzungen ab hinsichtlich ihres künftig zu erwartenden Gesamtbedarfes.
Als AirBoss eine Preisanpassung verlangte, lehnte MSSC dies ab unter Verweis auf die Gültigkeit der Rahmenbestellungen. AirBoss hingegen war der Ansicht, es bestehe keine Bindung an die Rahmenbestellungen, und teilte mit, daher auch keine weiteren Bestellungen mehr von MSSC anzunehmen. MSSC beantragte daraufhin eine einstweilige Verfügung, die AirBoss zur Weiterbelieferung zwingen sollte.
Während die beiden Vorinstanzen AirBoss zur Weiterlieferung verpflichteten, revidierte der Supreme Court diese Entscheidungen und beschäftigte sich bei der Gelegenheit genauer mit verschiedenen Vertragsgestaltungen in der Branche – und erkannte dabei erstmals in einer solchen Konstellation die Gültigkeit eines „release-by-release“-Vertragsverhältnisses an, was von dem bisher angenommenen Modell eines sog. „requirements contract“ nach dem amerikanischen Handelsgesetz („UCC“) fundamental abweicht.
Als entscheidendes Argument gegen einen (long-term) requirements contract führte das Gericht an, es fehle im Vertrag zwischen MSSC und AirBoss an einer Bestimmung über die konkreten, von MSSC insgesamt während der gesamten Vertragslaufzeit benötigten Mengen (engl.: „quantity term“). Eine Einigung hierüber stelle aber einen wesentlichen Vertragsbestandteil dar. Hier kommt der „release-by-release“-Vertrag ins Spiel: Angepasst an die Besonderheiten der (Automobil-)Zuliefererbranche, will er die Vertragsparteien weniger stark aneinander binden. Voraussetzung ist, dass ausdrückliche Einigungen über wesentliche Vertragsbestandteile eines bindenden Bedarfsvertrags fehlen, wie z.B. die konkrete Gesamtmenge an zu liefernden Waren.
Unsere Handlungsempfehlungen
Überprüfen Sie Ihre Vertragswerke und die mit Ihren amerikanischen Geschäftspartnern im Zuliefererbereich auf kritische Formulierungen. Durch das Urteil werden bestimmte Standardformulierungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen von OEM und Tier-Lieferanten, auch außerhalb des Bundesstaates Michigan, mindestens als kritisch, wenn nicht gar als unwirksam anzusehen sein.
Aber auch in Vertragsbeziehungen, die dem deutschem Recht unterliegen, sind Preisstreitigkeiten aufgrund langfristig bestehender Rahmenverträge und die Verpflichtung zur stoischen Erfüllung von Lieferabrufen keine Seltenheit. Ursächlich dafür sind oft Unklarheiten und Irrtümer auf beiden Vertragsseiten über die Verpflichtungsreichweite von (Rahmen-) Verträgen.
Während Zulieferer sich häufig scheinbar aussichtlos an teils unwirtschaftliche Konditionen ihrer Abnehmer gebunden sehen, besteht in manchen Fällen tatsächlich die Möglichkeit, Einfluss auf die Preisgestaltung zu nehmen oder sich gar aus der Geschäftsbeziehung zu lösen. Ein Blick in die Verträge lohnt sich. Nicht selten finden sich darin ähnlich unbestimmte Formulierungen wie die von MSSC. Dabei sollte der Grundsatz lauten: Unterscheiden Sie zwischen Rahmenverträgen, die Sie zur Annahme und Erfüllung von Einzelabrufen verpflichten, und solchen, die das nicht tun.
Fazit
Diese spannende Entscheidung wird auch außerhalb des Bundesstaates Michigan große Wellen in der Lieferkette schlagen. Sie kehrt den beunruhigenden Trend in den USA um, Zulieferer uneingeschränkt an die Bedingungen ihrer Käufer zu binden, selbst wenn eine ausdrückliche Vereinbarung hierzu fehlt.
Gerne prüfen wir Ihre Verträge und Allgemeinen Geschäftsbedingungen und geben Ihnen Tipps für eine Vertragsgestaltung, die perfekt auf Ihr Unternehmen abgestimmt ist.
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