Soweit ein Produkt, das nicht oder nicht vollständig harmonisiert wurde, in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gegeben wurde, darf der Verkauf dieses Produkts in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht verboten werden (wir berichteten). Dieser Grundsatz basiert auf der Cassis-de-Dijon-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und gilt gemäß EU-Verordnung 2019/515 über die gegenseitige Anerkennung von Waren selbst dann, wenn die technischen Produktvorschriften in den verschiedenen Mitgliedstaaten voneinander abweichen.
Ausnahmen vom Grundsatz
Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt: Ausnahmen sollen bei zwingenden Gründen des Allgemeinwohls zulässig sein, etwa zum Schutz der Gesundheit oder hinsichtlich sonstiger Gründe des Verbraucherschutzes. So können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungen und Systeme zur Kontrolle von Waren sowohl vor als auch nach dem Inverkehrbringen des Produkts implementieren.
In manchen Mitgliedstaaten wird das Inverkehrbringen dieser Produkte daher von einer formalen Genehmigung durch die zuständige Behörde des Mitgliedstaates abhängig gemacht, wenn für das Produkt in diesem Mitgliedstaat besondere nationale technische Vorgaben bestehen. Dieses Vorabgenehmigungsverfahren ist ein Verwaltungsverfahren, in dessen Rahmen die Behörde förmlich über die Zulässigkeit der Bereitstellung auf dem Markt des Mitgliedstaates entscheidet. Verweigert die zuständige Behörde den Marktzugang, muss sie den betreffenden Wirtschaftsakteur sowie die Kommission innerhalb von 20 Tagen hierüber informieren.
Doch auch nach dem Inverkehrbringen können Waren von den zuständigen Marktüberwachungsbehörden dahin gehend bewertet werden, ob sie im Ursprungsmitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden oder ob berechtigte Allgemeininteressen vorliegen, die eine Marktzugangsbeschränkung ausnahmsweise rechtfertigen könnten.
All diesen Verfahren gemein ist, dass die zuständigen Behörden den betroffenen Wirtschaftsakteur über die Prüfung, den Inhalt der Prüfung und das Vorabgenehmigungsverfahren vorab informieren müssen.
Selbsterklärung der Wirtschaftsakteure
In Reaktion auf eine angekündigte behördliche Produktbewertung kann der betroffene Wirtschaftsakteur eine Selbsterklärung (vgl. Anhang VO 2019/515) ausstellen und damit deklarieren, dass die Waren in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden. Faktisch bewirkt eine solche Selbsterklärung, dass die Behörde über den Nachweis der Produktkonformität hinaus keine weiteren Nachweise über die Verkehrsfähigkeit des Produkts fordern kann. Die freiwillige Selbsterklärung hindert die Behörden im Ergebnis jedoch nicht daran, eine Beschränkung oder Verweigerung des Markzugangs anzuordnen.
Solvit
Wenn einem Produkt aufgrund der Bewertung der zuständigen Behörde die Verkehrsfähigkeit in dem Mitgliedstaat verwehrt wurde, lässt sich in Streitfällen das SOLVIT-Netzwerk als Problemlösungsmechanismus einschalten. SOLVIT ist ein europäisches System von Beratungsstellen, das bei Regelungen und Entscheidungen, die gegen geltendes EU-Recht verstoßen, innerhalb von deklarierten 10 Wochen eine Falllösung anstrebt und damit zügig Abhilfe leisten kann.
Praxishinweise
Wirtschaftsakteuren, die nicht oder nicht vollständig harmonisierte Produkte grenzüberschreitend vertreiben, ist die rechtzeitige Einholung von Auskünften über die Regelungen und Systeme zur Kontrolle dieser Waren sowie über die technischen Voraussetzungen in sämtlichen Mitgliedstaaten, in denen das Produkt vertrieben werden soll, zu empfehlen. Hierfür können die jeweiligen Produktinfostellen der Länder kontaktiert werden, die auf Anfrage innerhalb von 15 Arbeitstagen kostenlos Informationen über die geltenden technischen Produktvorschriften bereitstellen. Parallel dazu sollten Wirtschaftsakteure von der Möglichkeit des Ausstellens einer freiwilligen Selbsterklärung Gebrauch machen, um das Bewertungsverfahren der Behörde zu beschleunigen sowie den eigenen Verwaltungsaufwand zu begrenzen. Ein Muster-Beispiel für eine Selbsterklärung findet sich im Anhang zur Verordnung (EU) 2019/515. Auf einer letzten Ebene bietet das SOLVIT-Verfahren einen kostenlosen und praktikablen Weg, um Auseinandersetzungen mit den Behörden zügig beizulegen.
zurück