In für europäische Verhältnisse rasend schnellem Tempo haben sich Kommission, Rat und Parlament nach nur anderthalb Jahren am 21. Dezember auf einen Kompromisstext für die neue Produktsicherheitsverordnung (GPSR) geeinigt, der am 30. März 2023 das EU-Parlament passiert hat. Damit steht dem reformierten allgemeinen Produktsicherheitsrecht in Europa nichts mehr im Weg. Was dies für europäische Wirtschaftsakteure, insbesondere die Hersteller von Produkten, bedeutet, erfahren Sie in unserem Beitrag.
Hintergrund
Auftakt für das laufende Gesetzgebungsverfahren war ein im Juni 2021 von der Europäischen Kommission veröffentlichter Verordnungsentwurf (COM/2021/346 final), mit dem die derzeit noch gültige Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG abgelöst werden sollte. Erklärtes Ziel dieser Neuauflage war es, den gesetzlichen Rahmen für die allgemeine Produktsicherheit von Non-Food-Produkten für Verbraucher zu aktualisieren, den Verbraucherschutz zu stärken und den Rechtsrahmen an die spezifischen Herausforderungen neuer Technologien und Geschäftsmodelle einschließlich des E‑Commerce anzupassen. Am 21.12.2022 haben sich der Europäische Rat, das EU-Parlament und die EU-Kommission auf einen Kompromisstext für eine neue Produktsicherheitsverordnung (GPSR) geeinigt, der am 30.03.2023 in erster Lesung vom Europäischen Parlament durchgewunken wurde. Damit steht sehr wahrscheinlich – Annahme im Rat vorausgesetzt – einer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union und damit dem Inkrafttreten dieses Regelwerks im zweiten Quartal 2023 nichts mehr im Wege.
Neues Gewand
Mit dem Inkrafttreten der Verordnung gilt sie direkt und unmittelbar in allen Mitgliedstaaten der EU. Dies sorgt für einen maximalen Grad der Harmonisierung in der EU und damit für mehr Rechtssicherheit für die Rechtsanwender, da eine Transformation in nationales Recht und damit die Anfälligkeit für nationale Unterschiede entfällt. Wie bisher auch werden sich die zur Rechtsdurchsetzung erforderlichen Bußgeld- und Strafvorschriften jedoch in flankierenden nationalen Gesetzen finden, in Deutschland wohl wie bisher im Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (ProdSG).
Das neue und sichere Produkt
Zu begrüßen ist zunächst, dass die initial vorgeschlagene Definition des „sicheren Produkts“, bei der vom Hersteller auch die missbräuchliche Nutzerverwendung bei Konstruktion und Bau berücksichtigt werden sollte, im Kompromisstext final aufgegeben wurde, da sie zu einem unauflösbaren Wertungswiderspruch geführt hätte. Denn nach den vorherrschenden produktsicherheitsrechtlichen Grundgedanken sind Hersteller für die Implementierung der Sicherheit nur in bestimmten Grenzen verantwortlich, nämlich nur bei bestimmungsgemäßer und vernünftigerweise vorhersehbarer Anwendung. Der Kompromisstext knüpft nun jedoch nicht an die bestimmungsgemäße, sondern an die „normale“ Verwendung (normal use) als Ausgangspunkt sicherheitsrechtlicher Überlegungen an. Sollte es bei dieser Wortwahl bleiben, dürfte der Leitfaden der Kommission zur Auslegung dieses und ggf. anderer Begrifflichkeiten nicht lange auf sich warten lassen.
In diesem Kontext wurde der Begriff des Inverkehrbringens für den Online-Handel klargestellt. Demnach liegt ein Inverkehrbringen bereits dann vor, wenn sich ein Verkaufsangebot an Verbraucher in der EU richtet, was immer dann angenommen werden kann, wenn sich die Geschäftstätigkeit auf einen oder mehrere Mitgliedstaaten ausrichtet, etwa, weil das Angebot in Sprachen der EU erhältlich oder die Zahlung in EURO möglich ist. Diese Logik wurde erstmals in der neuen Marktüberwachungsverordnung (EU) 2019/1020 (MÜ-VO) legaldefiniert, war aber produktsicherheitsrechtlich schon seit längerem implementiert (vgl. Blue Guide 2022, Punkt 2.4).
Neue „alte“ Player
Darüber hinaus wurde auch der Begriff der „wesentlichen Veränderung“ (substantial modification) eingeführt, über welche derjenige, der eine solche an einem Produkt durchführt, als (neuer) Hersteller eines neuen Produkts qualifiziert wird, den dann auch alle herstellerseitigen Pflichten treffen. Demnach handelt es sich immer dann um eine wesentliche Veränderung von Produkten, wenn eine Veränderung auftritt, die in der initialen Risikobewertung nicht berücksichtigt wurde, oder eine neue Gefahr entsteht oder sich das bekannte Risiko erhöht hat. Dieses Verständnis von der wesentlichen Veränderung war in Deutschland schon seit vielen Jahren vorherrschend, nicht zuletzt auf Basis eines Interpretationspapiers des BMAS aus dem Jahr 2015, das für den Maschinen- und Anlagenbau erarbeitet worden war. Als Korrektiv sieht die GPSR vor, dass dies jedoch nur dann der Fall sein soll, wenn diese Veränderung nicht durch den Verbraucher selbst oder in seinem Auftrag herbeigeführt wurde, da Verbraucher selbst in jedem Falle nicht Hersteller von Produkten werden sollen.
Im Übrigen werden neue, seit Inkrafttreten der MÜ-VO aber schon altbekannte Wirtschaftsakteure in die Riege der sicherheitsrechtlich Verpflichteten aufgenommen, namentlich der sogenannte Fulfilment-Dienstleister, Online-Marktplätze und Online-Schnittstellen. Darüber hinaus wird im Gleichlauf mit den Vorgaben der MÜ-VO die Pflicht implementiert, ein Produkt nur dann auf dem Markt bereitzustellen, wenn es für das Produkt einen in der EU ansässigen Verantwortlichen gibt sogenannter Produktverantwortlicher).
Erweiterte Pflichten der Wirtschaftsakteure
Mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung von Produkten im Internet der Dinge (IOT) müssen Hersteller im Rahmen der Konformitätsbewertung zukünftig neben der körperlichen Sicherheit auch die Cybersicherheit ihrer Produkte und deren Resilienz gegen äußere, ggf. böswillige Einflüsse im Blick haben und bei KI-Anwendungen auch die sich entwickelnden, lernenden und vorausschauenden Funktionalitäten ihres Produkts berücksichtigen. Unklar, aber unwahrscheinlich ist derzeit, ob die Normung geeignete Standards bereitstellt, um die Hersteller hierbei rechtssicher zu unterstützen.
Diese Pflicht kann im Zweifel auch den Produktverantwortlichen treffen, der im Rahmen der GPSR nun auch die Pflicht trägt, die materielle Konformität der von ihm bereitgestellten Produkte, deren Kennzeichnung und Begleitdokumente zu prüfen. Diese Pflichten gehen deutlich über den mit einem Bevollmächtigten vergleichbaren Pflichtenkreis in der MÜ-VO hinaus, die sich im Wesentlichen auf die Bereitstellung der EU-Konformitätserklärung und auf die Kooperation mit den Behörden der Marktüberwachung beschränkt.
Wichtig
Hersteller und Importeure treffen gleichermaßen erweiterte Kennzeichnungspflichten. Neben der postalischen Adresse ist künftig auch eine elektronische (E‑Mail-)Adresse auf dem Produkt anzugeben, unter der sie kontaktiert werden können. Parallel dazu haben Hersteller im Rahmen ihres Reklamationsmanagements zukünftig die Pflicht, die elektronische Beschwerdekommunikation zuzulassen.
Alle Wirtschaftsakteure treffen zukünftig erweiterte Notifikations- und Kooperationspflichten gegenüber den Behörden der Marktüberwachung, die bei festgestellter Unsicherheit eines Produkts über das Tool der Europäischen Kommission Product Safety Alert Business Gateway informiert werden müssen, und zwar losgelöst vom Grad des festgestellten Risikos. Diese umfassenden Notifikationspflichten waren bereits im sogenannten RAPEX-Leitfaden gemäß Durchführungsbeschluss (EU) 2019/417 angelegt, kommen nun aber in Gesetzesgewand auf die Rechtsanwender zu. Dieser Grundsatz wird scheinbar für den Fall durchbrochen, dass es durch die Nutzung eines Produkts zu einem (tödlichen) Unfall gekommen ist. Hier trifft die Pflicht zur Notifikation vorrangig den Hersteller des betroffenen Produkts und auch nur gegenüber derjenigen mitgliedstaatlichen Behörde, in deren Hoheitsgebiet der Unfall erfolgte.
Und ausnahmslos alle Wirtschaftsakteure müssen in der Lage sein, die Sicherheit und Konformität der Produkte, die sie auf dem Markt bereitstellen, durch geeignete Prozesse abzusichern und dies auch nachzuweisen.
Verstärkter Schutz im Online-Handel
Besonders praxisrelevant wird der verstärkte Verbraucherschutz im Rahmen des Online-Handels niederschlagen. Hier fordert die GPSR die Bereitstellung von konkreten Informationen über online vertriebene Produkte, nämlich neben einem Bild des jeweiligen Produkts die Hersteller- und Produktkennzeichnung sowie alle erforderlichen Sicherheitshinweise, die für die sichere Nutzung des Produkts erforderlich sind. Flankierend dazu werden Online-Marktplätze verpflichtet, die direkte elektronische Kontaktaufnahmen mit ihnen und den Behörden der Marktüberwachung zu ermöglichen. Anders als dies im Anwendungsbereich der MÜ-VO der Fall ist, werden sie nicht nur mit Kooperationspflichten, sondern mit originär eigenen Überwachungspflichten ausgestattet, um potenziell gefährliche Produkte schnell vom Marktplatz zu entfernen oder eine geeignete Warnung anzubringen.
Einheitliche Vorgaben für Produktrückrufe
Darüber hinaus wurden die Vorgaben für die Durchführung von Verbraucherrückrufen vereinheitlicht und mehr Anreize geschaffen, um die Teilnahme der Verbraucher an Rückrufmaßnahmen attraktiver zu gestalten. Zukünftig müssen Rückrufe durch ein entsprechend gekennzeichnetes Schreiben initiiert werden, das in allen mitgliedstaatlichen Sprachen verfasst sein muss, in denen das jeweilige Produkt in Verkehr gegeben wurde. Hersteller werden verpflichtet, alle verfügbaren Kanäle der Information inklusive den sozialen Medien zu nutzen, um Verbraucher über einen Rückruf zu informieren. In diesem Kontext dürfen sie keine verharmlosenden Begriffe wie „freiwillig“, „vorsorglich“ oder auch „in seltenen/spezifischen Fällen“ verwenden, um den Verbraucher nicht über die Dringlichkeit einer Maßnahme ins Irre zu führen. Diese Logik ist nicht neu, sondern fand sich bereits in einem Leitfaden der EU-Kommission aus dem Jahr 2021 zur effektiven Gestaltung von Rückrufen.
Ferner muss der Hersteller den betroffenen Verbrauchern mindestens zwei wirksame, kostenfreie und zeitnahe Abhilfemaßnahmen wie die Reparatur, den Ersatz des zurückgerufenen Produkts oder auch die Erstattung des Wertes des zurückgerufenen Produkts anbieten. Dabei hat der zu erstattende Betrag mindestens dem vom Verbraucher gezahlten Preis zu entsprechen. Diese Vorgaben sollen einen Anreiz für Verbraucher schaffen, sich an einem Rückruf zu beteiligen. Derzeit konkurrieren die geplanten Regelungen jedoch eklatant mit national geltendem Gewährleistungsrecht und der aktuellen Rechtsprechung in Deutschland.
Es wird sich zeigen, ob die Standardisierung von Maßnahmen für jedes Produkt und jede Art von Risiko geeignet ist, die im Einzelfall bestehende Gefahr effektiv zu mindern, aber gleichzeitig dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen. Streitstoff scheint in diesem System jedoch vorprogrammiert.
Erhöhte Transparenz und Vernetzung
Neben der Modernisierung und dem Ausbau des Safety-Gate-Rapid-Alert-Systems (RAPEX), in welchem, Informationen über kursierende gefährliche Produkte frei und von jedermann einsehbar sind, plant die EU-Kommission ein sogenanntes „Register der Rückverfolgbarkeit“, in das Hersteller von Produkten, die typischerweise mit einem ernsten Produktrisiko verbunden sind, Produktdaten, Informationen über die Produktbestandteile und über die Lieferkette speichern müssen. Auf diese Daten sollen – etwa über einen Datenträger auf dem Produkt – Verbraucher, aber auch die anderen Wirtschaftsakteure und die Behörden der Marktüberwachung Zugriff haben. Die Pflicht zur Erstellung eines sogenannten digitalen Produktpasses, wie er bereits für die neue Ökodesign-Verordnung vorgesehen ist (wir berichteten), wurde zwar nicht implementiert. Über dieses neue Register kommt die EU der avisierten Zentralisierung von Produktinformationen jedoch wieder ein großes Stück näher. Daneben steht das bereits im Anwendungsbereich der MÜ-VO geschaffene Informations- und Kommunikationssystem für die strukturierte Erfassung, Verarbeitung und Speicherung von Informationen von marktüberwachungsrechtlichen Themen, das über Schnittstellen mit RAPEX verbunden wird.
Fazit
Mit der Einigung über die neue Produktsicherheitsverordnung verfestigt sich die Richtung des neuen europäischen Produktsicherheitsrechts. Die implementierten Mechanismen werden bei entsprechender Umsetzung zu einem deutlich erhöhten Verbraucherschutz und zu einer spürbaren Intensivierung der Marktüberwachungstätigkeiten kommen. Mit einer relativ kurzen Übergangsfrist von 18 Monaten und ausgehend von einem Inkrafttreten im 2. Quartal 2023 wird die GPSR voraussichtlich Ende 2024 scharfgeschaltet. Dies lässt den Wirtschaftsakteuren nur verhältnismäßig wenig Zeit, ihre Prozesse an die neuen Vorgaben zu adaptieren. Abzuwarten bleibt auch, wie schnell sich die Behörden der Marktüberwachung auf die Straffung der marktüberwachungsrechtlichen Mechanismen einstellen werden. Eine Tatsache ist jedoch unausweichlich: Die EU meint es ernst mit der Produktsicherheit!
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