Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben gemäß Art. 26 VO (EU) 2023/988 (GPSR) zum einen Korrekturmaßnahmen für gefährliche Produkte zu melden, die ein ernstes Risiko im Sinne der GPSR darstellen, zum anderen solche auf der Grundlage von Art. 19, 20 VO (EU) 2019/1020 (MÜVO). Die Meldung erfolgt über das Schnellwarnsystem Safety Gate.
In beiden Fällen wird ein ernstes Risiko durch eine Risikobewertung festgestellt. Die Kriterien für diese Bewertung hatte die Kommission im Wege eines delegierten Rechtsakts zu erlassen. Das ist am und mit Wirkung zum 13.12.2024 durch die Delegierte VO (EU) 2024/3173 geschehen. Die Kriterien für die Bewertung des Risikoniveaus finden sich in deren Anhang II und folgen größtenteils jenen des Vorgängerbeschlusses (RAPEX-Leitlinien) (EU) 2019/417, wäre da nicht Abschnitt 4: „Annahme eines ernsten Risikos“.
In den dort benannten Fällen ist zwar weiterhin ein von einem Produkt ausgehendes Risiko erforderlich, es „gilt“ jedoch als ernstes Risiko, ohne dass die Mitgliedsstaaten eine individuelle Risikobewertung vorzunehmen haben.
Die Annahme eines ernsten Risikos
Eigentlich bestimmt sich das Risiko aus der Kombination eines Schadensschweregrads und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit. Ausweislich Abschnitt 3 müssen die Mitgliedstaaten diese Prüfung nicht mehr vornehmen, können es aber. Die Vermutung ist unter Berücksichtigung der englischen und der französischen Sprachfassung durch eine dennoch vorgenommene Risikobewertung widerleglich. Brisant ist die Vermutung deshalb, weil Art. 19 Abs. 1 MÜVO für Produkte, von denen ein ernstes Risiko ausgeht, im Regelfall den Rückruf oder die Rücknahme vom Markt vorsieht.
So gilt es beispielsweise als ernstes Risiko, wenn der Inverkehrbringer eines Produkts oder der Anbieter eines Online-Marktplatzes von einem ernsten Risiko ausgeht (Abschnitt 4.1 lit. b). Das Gleiche gilt, wenn ein Produkt auf freiwilliger Grundlage von einer Website entfernt wird (Abschnitt 4.1 lit. c). Auch wenn ein Produkt einen chemischen Stoff enthält, der nach dem Unionsrecht nicht enthalten sein dürfte, ist von einem ernsten Risiko auszugehen (Abschnitt 4.1 lit. d).
Rechtswidrigkeit der Delegierten Verordnung
Zwar ist der Kommission aufgetragen, die Kriterien für die Bewertung des Risikoniveaus festzulegen. Dabei hat sie die GPSR jedoch nur zu ergänzen, nicht zu ändern. Bereits der Begriff des Risikos setzt (Art. 3 Nr. 4 GPSR) das Verhältnis zwischen der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr und der Schwere des Schadens voraus. Für die Kommission dagegen genügt es, dass ein Produkt „wahrscheinlich“ mit einem Schadensniveau von 3 oder 4 verbunden ist, wenn von Verbrauchern nicht erwartet werden kann, dass sie die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen werden – auf die Eintrittswahrscheinlichkeit kommt es nicht an. Und erst recht der Begriff eines ernsten Risikos bezeichnet „ein Risiko, das auf der Grundlage einer Risikobewertung (…)“ ein rasches Eingreifen der Behörden erforderlich macht.
Dass die Kommission hierdurch ihre Befugnisse überschreitet, war Gegenstand intensiver Debatten während des diesjährigen Product Compliance Dialogs.
Seit dem 05.03.2025 ist vor dem EuGH eine Klage anhängig, mit dem Ziel, Anhang II Abschnitt 4 der Delegierten Verordnung (EU) 2024/3173 für nichtig zu erklären (Rechtssache T‑154/25).
Fazit
Sollte die Klage zulässig sein, hat sie gute Aussicht auf Erfolg. Zwar hat der EuGH bereits entschieden, dass gegen unvollständige RAPEX-Meldungen ein Rechtsbehelf verfügbar sein muss (Az. C‑626/21). Und eine fehlerhafte Produkteinstufung kann einen Folgenbeseitigungsanspruch begründen (VG Münster, Urt. v. 13.11.2019 – 9 K 2514/16). Indes sind die Mitgliedstaaten zunächst an die Kommissionsvorgaben gebunden.
Für Wirtschaftsakteure gilt die Delegierte Verordnung nicht. Zwar haben etwa Hersteller bereits die Annahme, ein Produkt sei gefährlich, zu melden. Dies erfolgt jedoch über das Safety-Business-Gateway. Im dazugehörigen Handbuch empfiehlt die Kommission allerdings, die Risikobewertung an der Delegierten Verordnung auszurichten.
Es bleibt abzuwarten, wie die Behörden die Vorgaben umsetzen. Sie haben weiterhin das Recht, eine individuelle Risikobewertung vorzunehmen, die die Vermutung widerlegt.
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